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In den letzten Beiträgen dieser Kennzahlenreihe – vom KGV über die PEG Ratio bis hin zu EV/EBITDA und dem Free-Cashflow-Yield – ging es immer wieder um dieselbe Ausgangsfrage: Was sagt eine Zahl wirklich aus? Welche Realität steht dahinter? Und wo liegen die blinden Flecken einer Kennzahl, wenn man sie isoliert betrachtet?
Debt/EBITDA passt nahtlos in diese Reihe, weil es eine Dimension sichtbar macht, die in klassischen Bewertungsmodellen oft unterschätzt wird: Fremdkapital und seine Wirkung auf Risiko, Handlungsspielraum und den Enterprise Value.
Während EV/EBITDA zeigt, wie teuer ein Unternehmen inklusive Schulden ist, beantwortet Debt/EBITDA die andere Seite derselben Medaille: Ist die Verschuldung operativ tragbar?
Die Formel ist simpel:
Debt/EBITDA = Nettofinanzschulden / EBITDA.
Doch ihre Aussagekraft ist hoch – nicht nur absolut, sondern kontextabhängig. Sie beschreibt, wie viele Jahre ein Unternehmen theoretisch bräuchte, um seine Schulden allein aus dem operativen Gewinn vor Abschreibungen zu tilgen. Und sie zeigt, wie anfällig das Geschäftsmodell gegenüber Zinsen, Rezessionen und externen Schocks ist.
Damit bildet Debt/EBITDA das natürliche Gegengewicht zu unserem letzten Beitrag über den Free-Cashflow-Yield. Während der FCF zeigt, was ein Unternehmen übrig behält, zeigt Debt/EBITDA, wie viel davon schon durch Altlasten gebunden ist.
Die Kennzahl ist jedoch nur dann richtig zu verstehen, wenn man zwei strukturelle Faktoren sauber mitdenkt:
Erstens die Sektorabhängigkeit.
Schulden sind nicht in allen Branchen dasselbe Risiko. Ein Telekomkonzern oder ein Energieversorger arbeitet mit stabilen Cashflows, langfristigen Verträgen und kapitalintensiven Vermögenswerten. Hier sind Werte von 3–4x normal, manchmal sogar notwendig. Kapital ist Teil des Geschäftsmodells, nicht nur ein Nebenprodukt.
Ganz anders in Konsum oder Tech: Dort sind Cashflows flexibler, Margen volatiler und Wettbewerb intensiver. Unternehmen wie $META fahren bewusst mit netto null Schulden, um maximale strategische Freiheit zu behalten. Alles über 2x wäre in solchen Sektoren ein Warnsignal und Ausdruck einer Stresssituation.
Debt/EBITDA ist also niemals ein universeller Maßstab, sondern sektorspezifisches Risikomaß: Stabilität erlaubt höhere Hebel, Volatilität nicht.
Zweitens das Zinsumfeld.
Verschuldung ist in Zeiten niedriger Zinsen (2015–2021) fast eine kostenfreie Ressource. Viele Unternehmen haben damals ihre Bilanz gehebelt, Aktien zurückgekauft, Fusionen finanziert oder ihr Wachstum beschleunigt. Der Markt tolerierte Leverage-Level von 4–5x, sofern Cashflows berechenbar erschienen.
In einem Umfeld steigender Zinsen dagegen verschärft sich das Risiko exponentiell – nicht linear. Refinanzierung wird teurer, Covenants enger, Ratings kritischer. Ein Leverage von 4x, der 2019 als entspannt galt, kann 2025 operative Flexibilität zerstören. Debt/EBITDA muss daher immer durch die Brille des aktuellen Kapitalmarktumfelds gelesen werden.
Verschuldung ist kein statisches Risiko, sondern ein makroökonomisch getriebenes.
Wie stark sich die Kombination aus Sektorlogik und Zinsumfeld auswirkt, zeigen vier völlig unterschiedliche Realbeispiele.
Beginnen wir mit $KO (+2,74 %) (Coca-Cola). Der Konzern operiert in einem defensiven Konsumsegment mit hoher Preissetzungsmacht. Das Geschäftsmodell ist cashflowstark, planbar und wenig kapitalintensiv. Kein Wunder, dass Coca-Cola seit Jahren in einem Bereich um etwa 2x Debt/EBITDA liegt – einem Wert, der exakt zur Stabilität des Unternehmens passt. Schulden sind hier eher ein Instrument zur Optimierung der Kapitalstruktur als ein Risiko. Dass $KO Dividenden seit Jahrzehnten steigert und Rückkäufe betreibt, wäre ohne diese kontrollierte Verschuldung kaum möglich. Entscheidend ist die Planbarkeit: Die Kombination aus stabiler Nachfrage, globaler Markenstärke und verlässlicher Margenstruktur erlaubt einen moderaten Leverage – und hält ihn gleichzeitig langfristig tragfähig.
Ganz anders die Lage bei $WBD (+1,2 %) (Warner Bros. Discovery). Das Unternehmen bewegt sich in einer Branche, die gleichzeitig strukturell unter Druck steht und hohe Fixkosten erfordert. Lineares TV schrumpft, Streaming skaliert langsam, Inhalte werden teurer, und Zinskosten steigen. Ein Debt/EBITDA von rund 4,5–5x ist in diesem Umfeld mehr als eine Bilanzgröße – es ist der Kern des Investment Cases. Jeder Zinsanstieg trifft sofort das Ergebnis, jede operative Enttäuschung schränkt die Handlungsfähigkeit ein. Sektor und Zinsen wirken hier nicht nur zusammen, sondern verstärken sich gegenseitig. Debt/EBITDA wird damit zur entscheidenden Bewertungsgröße: Nicht die Story entscheidet, sondern die Bilanzdisziplin.
$RCL (+4,12 %) (Royal Caribbean) zeigt ein drittes Muster, das man ohne Debt/EBITDA kaum versteht: zyklisch, kapitalintensiv, hoch verschuldet – und dennoch langfristig überlebensfähig. Kreuzfahrtunternehmen waren historisch immer stärker gehebelt, weil sie Schiffe finanzieren müssen, Infrastruktur vorhalten und über Jahre planen. In Krisen explodiert der Leverage kurzfristig (während der Pandemie sogar auf zweistellige Werte), in Erholungsphasen normalisiert er sich rasant. Hier sind Werte von 4–6x nicht zwangsläufig bedrohlich, sondern systemimmanent. Das Risiko entsteht erst, wenn eine Krise länger dauert als die Liquidität. Und genau deshalb ist Debt/EBITDA in solchen Geschäftsmodellen das wichtigste Frühwarnsystem: Es zeigt nicht, ob ein Unternehmen „gut oder schlecht“ läuft, sondern ob es die nächste Krise überstehen kann.
$META (+1,83 %) (Meta) bildet dagegen die Gegenposition: ein netto schuldenfreier Tech-Konzern mit enormen Cashflows, hohem Wachstumshebel und maximaler Flexibilität. Dass Meta keine Schulden nutzt, obwohl es bilanziell problemlos möglich wäre, ist eine strategische Entscheidung – nicht nur eine konservative. Das Unternehmen möchte jederzeit investieren können, ohne Kreditmärkte zu brauchen. Besonders in einem Umfeld steigender Zinsen zeigt sich der Vorteil: Während andere Unternehmen Refinanzierungskosten verdienen müssen, kann Meta aus dem operativen Cashflow Milliarden in Rechenzentren, KI und Buybacks stecken, ohne dass die Bilanz leidet. Hier zeigt Debt/EBITDA nicht das Risiko der Vergangenheit, sondern die Potenz der Zukunft.
Was lässt sich daraus ableiten? Erstens: Schulden sind kein Problem per se, sondern nur im falschen Sektor, zur falschen Zeit oder mit dem falschen Geschäftsmodell. Zweitens: Die Zahl muss immer relativ gelesen werden – relativ zum Cashflow-Profil, zur Kapitalintensität und zum Zinsumfeld. Drittens: Ein attraktives KGV oder PEG kann gegenstandslos werden, wenn die Bilanz keinen Spielraum lässt.
Debt/EBITDA ist deshalb keine Kennzahl, die man „mitlaufen lässt“, sondern eine, die oft den Unterschied zwischen einem Value Trap und einem stabilen Compounder erklärt. Sie verbindet Risiko und Bewertung zu einer Gesamtlogik: Wie viel der Zukunft ist bereits an die Vergangenheit verpfändet?
Viele Unternehmen gehen in diesen Jahren in eine stille, aber entscheidende Phase: Refinanzierungen laufen aus, Zinsen bleiben höher, und Kapital wird wieder teurer. Debt/EBITDA wird damit zum härtesten Testkriterium seit über einer Dekade – härter als Wachstum, härter als Margen und härter als jede Narrativ-Story.
Damit schließt sich die Klammer unserer bisherigen Kennzahlenserie. Während KGV, PEG und EV/EBITDA in die Bewertung führen und der Free-Cashflow-Yield Liquidität sichtbar macht, zeigt Debt/EBITDA, wie widerstandsfähig ein Unternehmen wirklich ist – oder ob es nur danach aussieht.
Für die Community bleibt eine zentrale Frage, die diesen Beitrag weiterführt:
Welche Branchen toleriert ihr bei hohen Debt/EBITDA-Werten – und wo zieht ihr persönlich die Linie?



