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Hallo,

Anbei möchte ich eine neue Beitragsreihe „Chemie im Alltag“ beginnen. Im Hintergrund bearbeite ich derweil noch die Beiträge zur Bioenergie und E-Fuels.


Worin investiere ich eigentlich in der Kategorie Chemie? In dieser Beitragsreihe möchte ich mit einigen Beispielen gern näher darauf eingehen, worin ihr eigentlich investiert seid und euch Anwendungsbeispiele veranschaulichen. Über die Zukunftsträchtigkeit möchte ich nicht weiter berichten. Diese müsst ihr individuell nach eurem Ermessen festlegen.


Wir machen Luft zu Geld. Die Industriegase-Hersteller.


Was sind Industriegase?

Industriegase sind nichts weiter als großtechnisch hergestellte Gase. Entsprechend der Definition könnte man in der Industrie also nahezu alles als Industriegas bezeichnen.


Eher bezeichnet man diese Form der Nutzbarkeiten als technische Gase. Sie unterscheiden sich in der Definition durch ihren hohen Reinheitsgrad in der technischen Herstellung. Dadurch erfolgt schon eine bedingte technische Eingrenzung, die nur auf Gasgemische zutreffen kann, die in ihrer Zusammensetzung bereits als „rein“ bezeichnet werden können. Durch den hohen Verschmutzungsgrad bei fossilen Trägern entfallen somit natürliche Brenngase, wie Erdgas und kurze Kohlenwasserstoffe, wie Methan, Ethan, Propan und Butan, aber auch der Natur-Kohlenstoffdioxid.


Was können wir also entsprechend der Definition verwenden?

Das einfachste Gasgemisch, dass jeder kennt und auch zu Hause besitzen sollte, ist Luft. Grob beschrieben, besteht Luft aus Stickstoff N2, Sauerstoff O2, Edelgasen und weiteren Kleinstbestandteilen. (Wasserstoff ist übrigens überhaupt kein Bestandteil der Luft!)


Wie kann ich Luft zerlegen?

Die Antwort ist recht simpel: Kältetechnik.

Viele Stoffgemische werden thermisch getrennt. Häuslich lässt es sich beim Kochen einfach erklären. Manche geben ihrer bekannten Bolognese oder Tomatensauce einen Schuss Rotwein hinzu. Anschließend muss dieser auskochen. Der Genussalkohol verdunstet. Es verbleibt eine wässrige Lösung in der Sauce.


Genau umgekehrt muss man sich das mit Luft vorstellen. Gase benötigen extreme Kälten, um verflüssigt zu werden. Stickstoff beispielsweise -196°C, Sauerstoff -183°C.

Natürlich würde es keinen Sinn ergeben eine bestimmte Menge Luft auf diese Temperatur herunter zu kühlen. Das wäre ohne mit gewöhnlichen Kühlmethoden generell sehr schwierig.


Eine Abhilfe schafft der Joule-Thomson-Effekt.

Einfach erklärt:

Ihr nehmt ein bestimmtes Volumen an Gas. Dieses komprimiert ihr nun. Es wird heiß, das Volumen wird kleiner. Nun entspannt ihr dieses Gas wieder. Die Wärme wird an die Umgebung abgegeben, das Volumen wieder vergrößert, aber das Gas an sich wird kalt.

Nimmt man dahingehend nun äußerst große Druckunterschiede an, führt dies dazu, dass Luft verflüssigt.


Da die darin enthaltenen Gase nun unterschiedliche Kondensationstemperaturen besitzen, kann man diese fraktionieren.

Stellt euch einen Behälter vor, in dem unterschiedliche Temperaturen herrschen. Am Boden des Behälters ist es am Wärmsten. Nach oben hin wird es kälter. Demzufolge hättet ihr am Boden eine Schicht Sauerstoff, darüber Stickstoff und alle weiteren Gase.

Diese Aussage ist aber nur bedingt richtig, da die Reihenfolge natürlich abweicht. In der Betrachtung habe ich nur Stickstoff und Sauerstoff als die größten Bestandteile betrachtet. Dazwischen würden sich noch die Kondensationspunkte von diversen Edelgasen befinden.

Ein sehr einfaches GIF ist angehangen.


Die großen Wettbewerber.

Geschichtlich ist es tatsächlich umstritten, wer nun zuerst die Entdeckung der Luftzerlegung für sich beanspruchen kann. Viele Wege führen nach … Deutschland? England?


Die erste großtechnische Kältemaschine wurde von Carl von Linde zwischen 1892/93 erfunden. Sie war allerdings auf Basis von Kohlensäure. Daher nicht mit dem heute verwendeten technischen Ansatz vergleichbar.

1895 meldete der britische Forscher William Hampson ein Patent zur Luftverflüssigung an. Linde nur wenige Tage später in Deutschland.

Hampson verkaufte sein Patent später an das Unternehmen British Oxygen (BOC). Was aus dem Patent Lindes wurde, ist heute noch alltäglich in weißer Schrift auf blauen Hintergrund deutlich. 2006 übernahm Linde $LIN (+0,62 %) den britischen Konkurrenten. Das britische Geschäft wird auch heute noch unter der Marke BOC betrieben.


Wenig später 1902 meldete auch Georges Claude ein Patent zur Verflüssigung und Zerlegung von Luft an - der Grundstein für Air Liquide $AI (+0,51 %) .


Die weiterhin bedeutende Konkurrenz der Unternehmen Air Products & Chemicals $APD (+1,54 %) gelang erst 1940 an den Markt. Ursprünglich als Kleinversorger mit Sauerstoffgeneratoren für das US-Militär.


Der typische Fernostvertreter Nippon Sanso $4091 (+0,53 %) war ursprünglich ein ausschließlicher Hersteller für Sauerstoff. Erst 1935 gelang die erste großtechnische Luftzerlegung. Große Bekanntheit und Marktanteile im weltweiten Vergleich erhielt das Unternehmen 2016. Während der Fusion von Praxair und Linde wurden aufgrund kartellrechtlicher Bedingungen die europäischen Teile Praxairs an Nippon übergeben. Auf dem europäischen Markt ist man unter dem Markennamen „Nippon Gases“ eher bekannt.


Warum nun aber Industriegase?

Alle Hersteller befinden sich nicht nur bei Luft im Wettbewerb. Ein sehr großer Teil ihres Marktes machen auch Industriegase, insbesondere Wasserstoff aus. Wasserstoff wird großtechnisch über die Dampfreformierung gewonnen.


Ein Synthesegas bestehend aus kurzkettigen Kohlenwasserstoffen, wie Methan beispielsweise, wird in einen Reaktor mit Wasserdampf (Steam) so stark erhitzt, dass Methan in seinen Bestandteilen zerbricht. Es entstehen Wasserstoff und Kohlenmonoxid, welches in einem weiteren Schritt ausgewaschen wird zu Kohlenstoffdioxid und weiterem Wasserstoff.


Der Verwendungszweck der einzelnen Gase

Industriegase-Hersteller besitzen einen durchaus beachtlichen Burggraben. Luft ist ein (noch) kostenloser Rohstoff. Günstiger geht’s sozusagen kaum.


Stickstoff:

Der größte Bestandteil der Luft genießt einen riesigen wirtschaftlichen Nutzen. Die heimischen Tiefkühlwaren werden in der Regel mit Stickstoff „schockgefrostet“, in der Industrie dient es dem allgemeinen Schutz als träges Gas.

Stickstoff bildet weiterhin die Grundlage für die gesamte Agrochemie und die Düngemitteltechnologie. Viele Sprengstoffe sind außerdem Stickstoffverbindungen.

Die Anwendung in flüssiger Form findet Anwendung in der Forschung bei Supraleitern, aber auch der Lagerung biologischer und medizinischer Proben, sowie Spermien und Eizellen.

Im Tiefbau findet man Anwendung in der Bodenvereisung, sowie eine unersetzliche Bedeutung in der Werkstofftechnik, hinsichtlich der Stahlverwertung und dem Recycling von Industriemetallen.


Sauerstoff:

Ohne Sauerstoff, keine Grundlage für Stahl. Jeder Prozess der Verbrennung kann durch eine gezielte Konzentration von Sauerstoff verschieden verlaufen.

Aber auch in einem Mischverhältnis mit Stickstoff wird es medizinisch als Atemluft verabreicht.

Ferner sprudelt man Sauerstoff in Seen, deren Ökosystem verstorben ist, um dies zu regenerieren.


Die Beispielkette für Sauerstoff und Stickstoff könnte man natürlich unzählig verlängern. Dies sind nur einige Beispiele, die durchaus mit einem Burggraben anzusehen sind.


Weitere Beispiele befinden sich im Bereich des Schweißens. Moderne Schweißprozesse werden kaum noch mit Acetylen als Schweißmedium verwendet. Qualitativ höherwertige Schweißarbeiten erzielt man unter Einsatz von Edelgasen. Das sogenannte „Schutzgasschweißen“. Das beschreibt Untergruppierung des Lichtbogenschweißens. Egal ob MAG-, MIG- oder Fülldrahtschweißen: Werkstoffe und Anfertigungen unserer Zeit müssen immer höchsten Standards gerecht werden. Das betrifft in unserer Industrie vor allem hohe Qualitätsstandards, überaus wichtiger dennoch die Sicherheitsstandards, die mit anderen Schweißmethoden im Vergleich unsicherer sind. (Kaltschweißen durch Manneskraft ausgenommen. Die Industriearbeiter, insbesondere Mechatroniker und Mechaniker wissen, was ich dahingehend meine 😂)


Ich hoffe ich konnte euch gut einstimmen auf die Beitragsreihe. Welchen Alltagsgegenstand sollte ich demnächst erläutern und welche börsennotierten Unternehmen sich dahingehend engagieren?



Alle meinen Anregungen entstammen mit zu einem großen Teil meinen Kopf. Man mag es kaum glauben.

Zusätzlich verwende ich stets das Lexikon der Chemie (ISIN 978-3131027597)



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7 Kommentare

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Da hat sich einer wieder viel Mühe gemacht 🙏 @ccf
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@ccf
Ich bin gespannt auf die Reihe 😊
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