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In einem meiner letzten Beiträge über die Schwächen des KGV habe ich gezeigt, warum das scheinbar simple Kurs-Gewinn-Verhältnis leicht in die Irre führen kann. Es berücksichtigt weder die Kapitalstruktur noch den Verschuldungsgrad eines Unternehmens, blendet bilanzielle Sondereffekte aus und macht Firmen unterschiedlicher Branchen künstlich vergleichbar, obwohl ihre Geschäftsmodelle völlig unterschiedlich funktionieren. Drei zentrale Probleme stechen dabei besonders hervor:
- Verschuldung: Zwei Unternehmen mit gleichem KGV können völlig unterschiedliche Risikoprofile haben, wenn eines hoch verschuldet ist.
- Bilanzierungslogik: Abschreibungen, Steuern und einmalige Effekte können den Gewinn stark verzerren – das KGV reagiert darauf empfindlich.
- Branchenvergleich: Kapitalintensive Industrieunternehmen und skalierbare Softwarefirmen lassen sich über das KGV kaum sinnvoll vergleichen.
Wer tiefer verstehen will, was ein Unternehmen wirklich wert ist, muss über den reinen Aktienkurs hinausblicken – hin zum Enterprise Value (EV). Denn während das KGV nur den Marktwert des Eigenkapitals abbildet, umfasst der EV den gesamten Unternehmenswert, also das, was ein Käufer tatsächlich bezahlen müsste. Die Formel ist einfach: EV = Marktkapitalisierung + Schulden – liquide Mittel.
Damit wird der Blick auf die ökonomische Realität frei: Ein Unternehmen mit hohem Cashbestand ist faktisch günstiger, als das KGV vermuten lässt, eines mit hoher Verschuldung dagegen teurer. In Kombination mit dem EBITDA – dem Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen – ergibt sich das EV/EBITDA, die Kennzahl, die in der professionellen Finanzanalyse längst Standard ist.
Das EBITDA spiegelt die operative Stärke eines Unternehmens wider, bevor Finanzierungsentscheidungen oder steuerliche Effekte das Bild verzerren. Setzt man den Enterprise Value ins Verhältnis zu diesem operativen Gewinn, erhält man eine strukturierte Antwort auf die Frage: Wie viele Jahre des aktuellen EBITDA müsste ein Käufer bezahlen, um das Unternehmen vollständig zu übernehmen?
Dieser Zugang ist deutlich aussagekräftiger als das KGV. Zwei Firmen mit identischem Gewinn und gleicher Marktkapitalisierung können bei identischem KGV vollkommen unterschiedlich bewertet sein, sobald man ihre Verschuldung berücksichtigt:
- Beide erzielen 1 Mrd. € Gewinn bei 10 Mrd. € Börsenwert → KGV = 10.
- Unternehmen A: keine Schulden → EV = 10 Mrd. €.
- Unternehmen B: zusätzlich 5 Mrd. € Schulden → EV = 15 Mrd. €.
- Bei gleichem EBITDA von 1,5 Mrd. € liegt das EV/EBITDA einmal bei 6,7x (A) und einmal bei 10x (B).
Gleicher Gewinn, völlig anderes Risiko.
Genau darin liegt die Stärke von EV/EBITDA: Es ist kapitalstrukturneutral, fokussiert auf die operative Ertragskraft und branchenübergreifend vergleichbar. Besonders im M&A-Umfeld oder bei Private-Equity-Investoren ist es die zentrale Bewertungsgröße, weil sie zeigt, was für das eigentliche Geschäft bezahlt wird – unabhängig von der Finanzierungsform.
Typische Bewertungsniveaus variieren nach Branche:
- Kapitalintensive Sektoren wie Energie, Chemie oder Maschinenbau: meist 5–8x.
- Software- und MedTech-Unternehmen: häufig 15–25x.
- $SAP (-2,79 %) (SAP SE): historisch etwa 10–12x EV/EBITDA.
- $ADBE (-0,83 %) (Adobe Inc): rund 18–22x EV/EBITDA.
- $BAS (-1,58 %) (BASF SE): regelmäßig unter 6x, bedingt durch hohe Kapitalbindung und Zyklik.
EV/EBITDA ist keine absolute Zahl, sondern eine Relation, die im Kontext des Marktumfelds zu lesen ist. In Aufschwungphasen steigen die Multiples, in Rezessionen sinken sie. Eine grobe Orientierung lautet dennoch: unter 7x gilt als günstig, 7–12x als fair, über 12x als ambitioniert oder wachstumsgetrieben.
Natürlich hat auch diese Kennzahl Grenzen. Sie blendet Investitionen, Steuern und tatsächliche Cashflows aus und kann kapitalintensive Geschäftsmodelle zu positiv erscheinen lassen. Deshalb sollte sie immer zusammen mit Kennzahlen wie EV/EBIT, Free-Cashflow-Yield oder der PEG Ratio betrachtet werden.
Im Kern aber bleibt EV/EBITDA der realistischere Maßstab: Es bringt operative Leistung, Verschuldung und Marktwert in ein gemeinsames Verhältnis und zeigt, was ein Unternehmen wirklich kostet. Das KGV mag einfacher sein – aber wer sich auf die Einfachheit verlässt, sieht oft nur die halbe Wahrheit.
Wie geht ihr vor? Nutzt ihr EV/EBITDA als zentrale Bewertungsgröße oder bleibt das KGV für euch der Ausgangspunkt? Und in welchen Branchen stößt die Kennzahl eurer Meinung nach an ihre Grenzen?

