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Wir sind im schlimmsten Bärenmarkt seit 100 Jahren!


„Hä, hab ich was verpasst? Clickbait?“


Hier und heute geht es um die Kapitalallokation (Asset Allocation) im Wertpapierdepot. Neben Aktien gibt es noch eine weitere Anlageklasse mit substanzieller Marktkapitalisierung, nämlich Anleihen. Die gesamte Marktkapitalisierung des Aktienmarktes betrug 2021 124,4 Billionen US-Dollar, der Anleihemarkt war 126,9 Billionen US-Dollar schwer. Zwischen diesen beiden Wertpapieren verteilt sich das Vermögen vieler Privatanleger und Institutionen.


„Puh, Anleihen... langweilig!“


Statistisch hat fast jeder Deutsche Anleihen. Nicht direkt, aber über Versicherungen. Es gab 2021 82,7 Millionen Lebensversicherungsverträge auf 83,2 Millionen Einwohner in Deutschland. Die Versicherungen sind gezwungen ihre Einlagen „sicher“ anzulegen, also z.B. in Anleihen hoher Bonität. Die Allianz beispielsweise hatte 2021 einen Portfolioanteil von 83,1% in festverzinslichen Wertpapieren und nur 11,8% in Aktien, 3% in Barmitteln und 2,1% in Grundbesitz.


„Die müssen es ja wissen!“


Wenn wir unser Geld „sicher“ anlegen wollen, dann wäre es doch simpel, einfach die Versicherungen in ihrer Allokation nachzuahmen. Leider ist das nicht ganz optimal, da diese Konzerne staatliche Auflagen erfüllen müssen und daher in ihren Investitionen eingeschränkt sind. Wir Privatanleger müssen uns an keine Vorgaben halten, daher habe ich die historischen Daten einmal aufgearbeitet, damit ihr euch sich ein Bild machen könnt.


„No Risk, No Fun!“


Für die „To the Moon“-Fraktion kann ich an dieser Stelle sagen, dass 100% Aktien die höchste Rendite in den letzten 95 Jahren eingebracht hat. Für alle anderen müssten wir erst einmal definieren, was Risiko im Depot bedeutet. Ich persönlich nutze immer 2 Kennzahlen, die Volatilität und den maximalen Verlust. Die folgenden Daten beziehen sich immer auf Jahreszahlen, eine Neugewichtung zum ursprünglichen Verhältnis (Rebalancing) findet zum Jahreswechsel statt.


„Volatilität?“


Die Volatilität misst in der Finanzmathematik die Schwankungsbreite der Renditen. Wenn Renditen stark schwanken, dann ist die Volatilität hoch, bei geringen Schwankungen niedrig. Ein 100% S&P 500 Depot hat in den letzten 95 Jahren (1927-2022) inklusive Dividenden eine Rendite von 9,64% p.a. (pro Jahr) bei einer Volatilität der Renditen von 19,49% erzielt. Als Vergleich hatten 10-jährige US-Staatsanleihen eine Rendite von 4,57% p.a. bei einer Volatilität von 7,95%. Man sieht also sehr gut, dass Anleihen nach dieser Risikodefinition risikoärmer sind.


„Sind 100% Anleihen am risikoärmsten?“


Jetzt können wir mit den Daten etwas spielen. Ich verwende hier 21 verschiedene Depots, welche sich in 5%-Schritten annähern, also 100/0, 95/5, ...,5/95, 0/100. Die erste Zahl ist der Aktienanteil (S&P 500) in Prozent, die zweite ist die Anleihenquote (10-jährige US-Staatsanleihen). Welche Allokation hat nun die geringste Volatilität? Aus diesen Beispieldepots ist 15/85 das mit den geringsten Schwankungen (7,43%). Demnach sind die Versicherungskonzerne, hier repräsentiert durch die Allianz, gar nicht so weit weg, eher ziemlich nah dran.


„Was ist nun mit dem maximalen Verlust?“


Die andere Risikokennzahl ist der maximale Verlust (Maximum Drawdown), welcher sich aus dem prozentualen Abstand zum letzten Allzeithoch ableitet. Da ich hier mit Performance-Zahlen arbeite, also inklusive Dividenden und Zinsen, zeigt die Zahl den höchstmöglichen Verlust im Gesamtzeitraum an. Bei 100% Aktien ist der maximale Verlust auf Jahresbasis 64,77% im Jahr 1932 gewesen. Das Depot war ab 1929 bis 1936 im Minus, stürzte dann aber direkt wieder ab und bliebt von 1937 bis 1944 in den roten Zahlen.


„Und was wenn ich möglichst wenig verlieren möchte?“


Bei dem 100% Anleihen Depot ist der maximale Verlust bei 21,46%, zumindest Stand Ende 2022, denn der im Titel erwähnte Bärenmarkt ist in Anleihen, und zwar jetzt. Der höchste Verlust davor war 2009 mit 11,12%. Mit Anleihen war man auch nie länger als 3 Jahre im Minus, bis jetzt, wir werden sehen was die nächsten Jahre bringen. Aber gut, wir nehmen unsere Daten wie sie sind haben den geringsten Verlust aktuell mit 17,86% bei einem 15/85 Depot. Wieder dieses 15/85 Depot, scheinbar machen die Portfoliomanager bei Allianz irgendwas richtig.


„Und was ist mit der Rendite?“


Bisher sind wir hier nur auf möglichst niedrige Risiken eingegangen, aber nicht auf die dazugehörigen Renditen. Dem wollen wir uns aus Sicht eines Privatanlegers nun nähern. Als Kennzahl nehme ich hierfür die Rendite geteilt durch die Volatilität, also eine abgespeckte Form der Sharpe-Ratio. Dadurch sehen wir, wie viel Risiko wir pro Renditepunkt eingehen müssen. Das höchste Rendite-Risiko-Verhältnis haben wir bei einem 25/75 Portfolio, nämlich 0,8. Das heißt, dass wir 0,8% Rendite für 1% Schwankungen erhalten. Als Vergleich: 100% Aktien haben 0,49 und 100% Anleihen haben 0,58.


„Und was ist mit der Inflation?“


Der größte Feind des langfristigen Anlegers ist bekanntlich die Inflation. Das frisst ja die Rendite der Anleihen vollkommen auf, oder? Nicht wirklich. Über unseren Zeitraum von 95 Jahren lag die Inflation in den USA bei 3,04% p.a., daher hat selbst das 0/100 Depot eine positive Rendite. Als Privatanleger möchte ich natürlich wissen, wie es denn um die realen Renditen steht und wo ich am meisten Rendite für mein Risiko bekomme. Hierfür habe ich die Rendite um die Inflation gesenkt und somit eine neue beste Allokation erhalten: 40/60. Ja, auch nach Inflation ist es aus Rendite-Risiko-Sicht sinnvoll, die Anleihen überzugewichten. Die reale Rendite in diesem Portfolio liegt bei 4,07%.


„Hast du da nicht den Staat vergessen?“


Jaja, der zweitgrößte Feind des Investors, die Steuer. Da sich die Steuergesetze über den langen Zeitraum häufig geändert haben und in Zukunft sicher wieder ändern werden, werde ich hier einfach unseren aktuellen Steuersatz ansetzen (25% Kapitalertragssteuer plus 5,5% Solidaritätszuschlag). Dies ergibt zusammen 26,375%. Um die Berechnung für mich zu vereinfachen habe ich die Steuer direkt von der Nominalrendite abgerechnet und danach die Inflation ebenfalls abgezogen. Selbst nach Inflation und Steuern haben die Anleihen noch ein plus eingebracht, nämlich überragende 0,32% p.a. Da war ich doch etwas erstaunt.


„Und was ist nun das optimale Portfolio?“


Natürlich sollte man nicht aus historischen Daten auf die Zukunft schließen. Ebenso sollte man einem Typ auf getquin nicht blind vertrauen, nur weil er mit Daten um sich wirft, aber ich möchte euch nicht weiter auf die Folter spannen. Nach Inflation und Steuern gewinnt den Pokal für das „Low Risk But Fun“ Portfolio der letzten 95 Jahre: Das 50/50 Portfolio mit einer realen Nachsteuerrendite von 2,59% p.a. und einer Volatilität von 10,61%. Ziemlich unspektakulär, oder? Aber so sind die Daten eben, und so sollten wir auch an die Geldanlage herangehen: Eiskalt, langweilig und rational.


„Und was lernen wir daraus?“


Die meisten unter uns werden trotz dieses Beitrags weiterhin 100% Aktien fahren, und das ist wahrscheinlich auch gut so, da viele auf getquin zum einen noch kleine Vermögen haben, welche noch wachsen sollen und zum anderen weil sie noch viel Zeit haben, um ihre eventuellen Verluste wieder aufzuholen. Solltet ihr dann irgendwann einmal in Richtung Rente gehen und etwas weniger Risiko vertragen, dann erinnert euch einfach an diesen Artikel. Bis dahin: To the Moon!


Für alle, die bis hierhin gelesen haben: Vielen Dank für eure Zeit. Da dies mein erster Artikel auf getquin ist bin ich für Feedback offen. Es kann passieren, dass ich den Beitrag häufig editiere, falls mir Fehler im Nachgang auffallen oder ihr mich darauf stoßt. Ich habe versucht anfängerfreundlich zu schreiben, falls Fragen offen sind einfach fragen. Wir sehen uns in den Kommentaren.


Quellen:

-https://www.sifma.org/resources/research/fact-book/

-https://de.statista.com/statistik/daten/studie/6370/umfrage/vertragsbestand-an-lebensversicherungen-in-deutschland-seit-2003/

-https://www.allianz.com/content/dam/onemarketing/azcom/Allianz_com/investor-relations/en/results-reports/annual-report/ar-2021/de-Allianz-Gruppe-Geschaeftsbericht-2021.pdf

-https://pages.stern.nyu.edu/~adamodar/New_Home_Page/datafile/histretSP.html

-Eine meiner Tabellen mit 8906 Daten



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@Lorena da ist dein Anleihen Beitrag, er hat es schöner geschrieben als ich es je hätte tun können
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Bin erst heute dazugekommen Deinen Beitrag zu lesen 👍
Beiträge zu Anleihen sind hier eindeutig unterrepräsentiertert
@ccf
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Extrem guter und wichtiger Beitrag, hatte auch schon einen überlegt mit dem Titel: Was einfach JEDEM ETF Depot zur Optimierung fehlt
:)
@ccf
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Wenn man mit vielen Zahlen hantierst, wären genauere Quellen hilfreich. Wie sicher bist du dir bei der Performance des S&P 500? Ich komme für einen ähnlichen Zeitraum inkl Dividende aber abzüglich Steuer eher auf 10-11% pro Jahr und nicht auf 9-10% pro Jahr. Woran machst du jetzt fest, dass wir im Bärenmarkt sind?

Insgesamt aber interessanter erster Beitrag. @ccf
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@ccf mega Beitrag!
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@ccf definitiv verdient
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Toll verständlich!!
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