Über Risiko im Bärenmarkt, DYOR und die Macht der Statistik
Vor ein paar Tagen teilte der gute @Zackdela79 einen Beitrag zur weltweiten Markteinschätzung [1]. Die Quintessenz: Wenn man der Vergangenheit und [2] traut, erholt sich der S&P 500 mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 90% nach einem Jahr bzw. mit einer Wahrscheinlichkeit von sagenhaften 100% nach drei Jahren - sofern man investiert, wenn der S&P 500 mindestens 25% unter dem letzten ATH liegt. Also können jetzt auch alle, die ihr Geld vielleicht nur 1-3 Jahre anlegen wollen, ruhigen Gewissens in ein ETF-Portfolio investieren, oder?
Zufällig veröffentlichte ich ja selbst vor ein paar Wochen einen Beitrag mit dem Titel "Das Risiko einer kurzen Anlagedauer (< 10 Jahre) richtig einschätzen" [3]. Da bietet es sich doch an, diese Statistik auf Herz und Nieren zu prüfen. Ticken die Uhren im Bärenmarkt tatsächlich anders?
Zuverlässige Statistiken erfordern eine große, zuverlässige Datenbasis
Warum sind wir uns so sicher, dass der weltweite Aktienmarkt langfristig steigt? Weil wir über zuverlässige und lange zurückreichende Daten verfügen. Aus diesem Grund haben wir auch ein großes Vertrauen in Gold. Bei anderen Anlageformen schaut das anders aus. Den Bitcoin $BTC (-0,27 %) gibt es noch keine 15 Jahre, er konnte sich noch nicht in verschiedenen Marktsituationen über Jahrzehnte bewähren. Wie soll hier ausreichend Vertrauen aufgebaut worden sein? In Immobilien haben wir zwar prinzipiell Vertrauen, sollten es aber eigentlich nicht haben, da hier zuverlässige und vergleichbare Daten tatsächlich eher Mangelware sind [4].
Natürlich kann man von der Vergangenheit nicht unbedingt auf die Zukunft schließen. Aber sie kann ein Indikator sein. Und dieser Indikator wird umso zuverlässiger, je mehr Daten vorliegen und je realistischer und vielfältiger die Situationen sind, in denen sie erhoben wurden. [2] berücksichtigt für den S&P 500 aber leider nur Daten ab 1960. Hingegen bietet [5] schon Daten ab 1928, [6] sogar ab 1871. Warum werden diese Daten nicht genutzt? Vermutlich, weil die Statistik dann gar nicht mehr so geil wäre.
Bspw. hatten wir im August 1929 ein ATH in Höhe von 31,71 USD. Mit 20,92 USD wurde das ATH im November 1929 um mehr als 25% unterschritten. Das nächste Mal, dass der S&P 500 diese Marke nachhaltig überschreiten konnte, war im Januar 1951 - nach über 21 Jahren. Auch unter Berücksichtigung der gezahlten Dividende dauerte es deutlich länger als 3 Jahre, bis der Einsatz wieder reingeholt werden konnte.
Stehen wir heute vor einer ähnlichen Situation wie 1929? Ich weiß es nicht. Aber es wäre dumm, dieses Szenario auszuschließen und davon auszugehen, dass sich die Börse sehr wahrscheinlich nach einem, spätestens jedoch nach drei Jahren wieder erholt hat - selbst wenn sich die Geschichte wiederholen sollte.
Der S&P 500 ist kein Welt-Index
Dazu kommt, dass die Wenigsten von euch ausschließlich in den S&P 500 investieren dürften. [1] bezieht sich aber exklusiv auf diesen Index. Über die Entwicklung eines Weltportfolio oder generell einer anderen Anlagestrategie wird keine Aussage getroffen. Schaut man bspw. nach Japan, kann das auch ganz anders ausgehen. Das ATH von 1989 konnte der japanische Leitindex Nikkei 225 30 Jahre lang nicht wieder erreichen [7].
Fazit
Vor ein paar Wochen warnte ich euch schon vor bewusster und unbewusster Manipulation in sozialen Netzwerken [8]. Die Statistik ist ein mächtiges und hilfreiches Werkzeug, um Annahmen über Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Szenarien zu treffen. Wir sollten sie nutzen, um die eigene Anlagestrategie zu optimieren. Aber sie kann ebenso einfach zur Manipulation missbraucht werden. Überprüft deshalb eure Quellen, hinterfragt die dort angegebenen Zahlen und DYOR - Do Your Own Research. Auch wenn es anstrengend ist und Zeit kostet, aber nur so könnt ihr für euch passende finanzielle Entscheidungen treffen.
Zum Schluss noch ein Wort zu @Zackdela79 : Bitte diesen Beitrag nicht als Angriff verstehen. Du hast nur eine Quelle geteilt und diese dabei sogar noch kritisch hinterfragt und ergänzt. Dennoch ist es leider oftmals nicht ausreichend, nur die aufbereiteten Zahlen einer Quelle zu übernehmen. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast 😉. Würde mich freuen, auch in Zukunft wieder umfangreiche Beiträge von dir zu lesen 🙂.
Bonus: Statistik-Phänomene
Als Bonus möchte ich euch noch zwei Statistik-Phänomene mit auf den Weg geben:
Die "Regression zur Mitte" [9] besagt, dass sich kurzfristige (extreme Kurs-) Schwankungen über die fortschreitende Zeit wieder an den Mittelwert angleichen. Wächst der weltweite Aktienmarkt bspw. über Jahrzehnte mit durchschnittlich 8%, folgen auf Jahre, in denen ein stärkeres Wachstum stattfand, Jahre mit geringerem Wachstum oder sogar mit Verlusten.
Das ist in Kombination mit der "Recency Bias" [10] besonders fatal. Diese besagt, dass Menschen Ereignissen in der jüngeren Vergangenheit eine höhere Bedeutung zuschreiben, als Ereignissen, die weiter in der Vergangenheit liegen. D. h. ein Asset steigt sehr stark, wodurch die FOMO zuschlägt und alle noch auf den Zug aufspringen wollen (bspw. Krypto 2020 bis 2021) und so den Kurs weiter befeuern. Aufgrund der Regression zur Mitte werden auf diese extremen Steigerungen aber wieder jede Menge Abverkäufe folgen und viele Investoren, die vor kurzem noch panisch gekauft haben, nun panisch verkaufen (bspw. Krypto 2022).
Statistiken und informiertes, rationales Handeln, sind deshalb für mich essentiell um ein nachhaltiges Portfolio aufzubauen, mit dem man ruhig schlafen kann.
Quellen
[1] https://app.getquin.com/activity/SmRxQTVutV
[2] https://awealthofcommonsense.com/2022/10/animal-spirits-long-term-bullish/
[3] https://app.getquin.com/activity/oyjGfrRRfr
[4] https://app.getquin.com/activity/FoLdCxttXY
[5] https://www.macrotrends.net/2324/sp-500-historical-chart-data
[6] https://www.multpl.com/s-p-500-historical-prices/table/by-year
[8] https://app.getquin.com/activity/ZaPeWEbJIp
[9] https://statistikguru.de/lexikon/regression-zur-mitte.html
[10] https://www.investopedia.com/recency-availability-bias-5206686