1.) Kennzahlen
Um eine Aktie anhand fundamentaler Daten zu bewerten gibt es eine Vielzahl an Kennzahlen: Earnings per Share, Kurs-Gewinn-Verhältnis, Kurs-Umsatz-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis, PEG-Ratio, Verschuldungsquote, F-Score usw. All diese Kennzahlen haben natürlich ihre Berechtigung und ergeben zusammen ein großes und umfangreiches Bild eines Unternehmens.
Aktuell befinden sich die Kurse auf Talfahrt und immer wieder hört man Sätze wie „es ist doch überhaupt nicht rational, dass der Kurs von Alphabet fällt, die sind doch sogar jetzt schon total unterbewertet!“ Mit dem heutigen Post wollen wir uns den Aktienkurs nur anhand zweier Kennzahlen anschauen und damit versuchen die derzeitigen Kursbewegungen plausibel zu machen. Zudem möchte ich als Mathematiker nun auch mal „etwas mit Zahlen“ machen und nicht immer nur über Börsenpsychologie reden ;D
2.) Modellierung des Aktienkurses mit zwei Kennzahlen
Bekanntlich ist das sogenannte KGV – also das Kurs-Gewinn-Verhältnis – oder im englischsprachigen Raum P/E-Ratio (Price-Earnings-Ratio) genannt, das Verhältnis aus Aktienkurs und Gewinn je Aktie (Earning per Share - EPS)[1],[2]:
KGV = Aktienkurs / EPS.
Nach den großen Mathematikern Carl-Friedrich Gauß und Leonhard Euler ist dies aber gleichbedeutend mit
Aktienkurs = KGV * EPS.
Was ersteinmal wie eine Spielerei aussieht erklärt schon extrem viele Effekte, die wir vor allem auch derzeit erleben. Wir konzentrieren uns nun im weiteren nur auf die zwei Kennzahlen KGV und EPS.
Als eine kurze Aufwärmübung ein kleines Rechenbeispiel: Aktuell wird Microsoft ($MFST) mit einem KGV von ungefähr 26 gehandelt. Der Gewinn/Jahr je Aktie (also EPS) liegt bei 9.58$. Folglich kommen wir auf einen Aktienkurs von ungefähr 26*9.58$ = 249.08$.
3.) Interpretation KGV
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis ist ein Maß dafür mit welchem Vielfachen des Gewinns des letzten Geschäftsjahres ein Unternehmen an der Börse bewertet wird [1]. Man kann es aber auch anders interpretieren: Hat ein Unternehmen ein KGV von 10, so dauert es 10 Jahre bis das Unternehmen den Wert seiner Aktien als Gewinn erwirtschaftet. Im obigen Beispiel von $MSFT würde es also aktuell etwa 26 Jahre brauchen um den Wert aller Microsoft-Aktien als Gewinn zu erwirtschaften. Diese Interpretation mag noch naheliegend sein, beinhaltet aber einen interessanten Ansatz: das KGV kann demnach als eine Art „Renditeerwartung“ interpretiert werden. Um dies besser zu verstehen betrachten wir den Kehrwert des KGV und nennen dies „Gewinnrendite“ [1]. Bei Microsoft liegt diese Gewinnrendite aktuell also bei etwa 1/26 ≈ 0.0385 = 3.85%. Diese Gewinnrendite kann man – wie die Angabe in Prozent vermuten lässt – als einen Zinssatz mit dem das heute eingesetzte Kapital verzinst wird interpretieren. Steigt bei gleichbleibendem KGV der Gewinn des Unternehmens, so steigt auch der Aktienkurs und mein eingesetztes Kapital wird, vereinfacht gesagt, mit dieser Gewinnrendite verzinst.
Der kurze mathematische Faktencheck zeigt:
- je niedriger das KGV, desto größer ist die Gewinnrendite
- je höher das KGV, desto niedriger die Gewinnrendite
4.) Aktienkurse vs. Zentralbanken
Wie nun sicherlich die meisten von uns mitbekommen haben wird gerade die „Zinswende“ bei den Zentralbanken eingeleitet. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass unser Geld auf dem Sparbuch wieder verzinst wird. Wir erhalten also eine „Rendite“ dafür unser Geld einfach aufs Sparbuch zu packen. Dem aufmerksamen Leser wird jetzt bereits aufgefallen sein, dass der Zinssatz den die Zentralbanken vorgeben (der sogenannte Leitzins) also beeinflusst wie und wo Anleger ihr Geld angelegen. Vereinfacht ausgedrückt: je niedriger die Zinsen desto attraktiver sind Aktien, je höher die Zinsen desto unattraktiver werden Aktien.
Wir erinnern nochmal an folgende Gleichung, die die zwei wichtigen Kennzahlen beinhaltet:
Aktienkurs = KGV * EPS.
Jetzt spannen wir aber wieder den Bogen hin zur Aktienkursfindung. Wichtig: für die weiteren Ausführungen in diesem Abschnitt gehen wir zunächst davon aus, dass EPS konstant bleibt. Angenommen der Leitzins liegt – wie in den letzten Jahren – bei nahezu 0%. Das Geld der Anleger wandert dann vermehrt in Aktien. Das Prinzip von Angebot und Nachfrage lässt die Kurse steigen. Bei sonst unveränderten Bedingungen (also EPS bleibt gleich) bedeutet dies, dass das KGV steigt. Grob zusammengefasst gehen also niedrige Zinsen immer mit höheren KGVs bei Aktien einher.
Nun wird der Leitzins von heute auf morgen auf 5% erhöht. Dies hat vereinfacht ausgedrückt zur Folge, dass wir nun 5% pro Jahr für das „Parken“ unseres Geldes auf dem Konto bekommen. Wir erinnern uns, dass aber der Kehrwert des KGVs die Gewinnrendite bei einem Investment in ein Unternehmen widerspiegelt. Hat Microsoft nun aktuell ein KGV von 26, also eine Gewinnrendite von 1/26 ≈ 0.0385 = 3.85%, so ist es für mich unattraktiver das Geld in Microsoft-Aktien zu investieren als mein Geld einfach auf mein Sparbuch zu legen. Nach dem Prinzip der Arbitrage ist es so, dass sich die beiden Zinssätze aneinander anpassen werden [3]. Vereinfacht ausgedrückt: keiner möchte sein Geld mit Risiko für 3.85% anlegen, wenn er ohne Risiko 5% bekommt. Da der Leitzins von den Zentralbanken festgelegt wird, bleibt also nur die Option, dass sich die Gewinnrendite von 3.85% auf 5% erhöht. Erst dann gibt es ein Gleichgewicht und die Anlagenalternativen sind in diesem Kontext gesehen gleichwertig. Erhöht sich die Gewinnrendite von 3.85% auf 5%, so bedeutet das für das KGV eine Senkung von 26 auf 20. Für den Aktienkurs bei gleichbleibendem EPS bedeutet das aber
Aktienkurs neu = 20 * 9.58$ = 191.60$.
Der Aktienkurs von Microsoft würde in diesem Szenario von rund 249$ auf rund 190$ fallen und das obwohl Microsoft immer noch denselben Gewinn je Aktie erzielt! Dies nennt man in der Fachliteratur auch Multiple Compression. Man beachte auch, dass der Aktienkurs nicht um die Differenz der Zinssätze, also 1.15%, sondern um ganze 23% gefallen ist! Übrigens ist selbstverständlich auch das Umgekehrte richtig: sinkt das Zinsniveau, so steigt im Verhältnis das KGV, so dass der Aktienkurs dann wieder steigt.
5.) Was gerade an der Börse passiert
Einfacher und einleuchtend ist der Zusammenhang von Aktienkursen mit den Sorgen einer Rezession bzw. wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Gibt es eine schwierige wirtschaftliche Lage, so könnten sich Umsatz und die Gewinn-Margen eines Unternehmens negativ entwickeln, was sich dann natürlich schlecht auf das EPS auswirkt. Da Aktienkurs = KGV * EPS, muss der Aktienkurs bei gleichbleibendem KGV und sinkenden EPS natürlich auch sinken.
Wir kommen jetzt zum „Big Picture“. Aktuell befinden wir uns in einem Umfeld steigender Zinsen und wirtschaftlichen Sorgen, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, Lieferengpässen, hohen Energiepreisen und allgemeiner Inflationssorgen. Die steigenden Zinsen bewirken wie oben beschrieben ein niedrigeres KGV und die wirtschaftlich schwierige Lage sorgt zusätzlich dafür, dass bei vielen Unternehmen der erwartete Gewinn – also das zukünftige EPS – zurückgeht. Diese Effekte kombinieren sich nun gemäß „Aktienkurs = KGV*EPS“ zu einem weitaus niedrigeren Aktienkurs und einer somit weitaus niedrigeren Bewertung für viele Unternehmen.
Rechenbeispiel: Zu dem abgesenkten KGV von 20 bei Microsoft wird nun auch noch eingepreist, dass das EPS um 10% zurückgehen soll. Dann haben wir
Aktienkurs neu = KGV*EPS = 20 * (9.58$*(1-0.10)) = 172.44$.
Das entspricht einem Kursabschlag von ca. 31%!
Das derzeit massiv Wachstumsunternehmen wie Shopify (KGV 289), Airbnb (KGV 80), Fiverr (KGV 796), usw. abgestraft werden liegt vor allem daran, dass deren KGVs (wenn überhaupt vorhanden, denn dazu müssen erstmal Gewinne erwirtschaftet werden) absurd hoch sind und deswegen bei steigenden Zinsen das KGV massiv runter gehen wird. Auch wenn natürlich eingepreist wird, dass es sich um Wachstumsunternehmen handelt, so werden solch hohe KGVs meist nicht mehr akzeptiert. Dies trägt dann sehr stark zum Kursverfall bei: ein KGV von 26 auf 20 zu senken sorgt für ein Kursverfall von 23%, ein KGV von 100 auf immer noch sehr hohe 50 abzusenken für einen Kursverfall von bereits 50% und das alles ohne das sich irgendwelche Gewinnprognosen ändern, denn fundamental bleibt auch in diesem Fall das Unternehmen ersteinmal genau dasselbe.
6.) Fazit und Ausblick
- es ist möglich in einem sehr einfachen Modell bestehend aus nur zwei Kennzahlen (KGV & EPS) die aktuellen Kursbewegungen zu erklären
- hohe Leitzinsen führen zu sinkenden KGVs und damit sinkenden Aktienkursen
- schlechte wirtschaftliche Lage führt oft zu sinkenden erwarteten EPS und damit sinkenden Aktienkursen
- treffen hohe Zinsen und wirtschaftliche Sorgen aufeinander kombinieren sich diese Effekte zu massiven Abverkäufen
Dieses Modell ist natürlich sehr vereinfacht und lässt andere wichtige Kennzahlen außen vor. Ich möchte damit keinesfalls behaupten, dass man andere Kennzahlen ignorieren soll. Ziel war es nur zu zeigen, dass bereits sehr einfache Modelle die aktuellen Kursbewegungen und scheinbar irrationale Abverkäufe von Qualitätsaktien erklären kann. Genauso erklärt bereits dieses einfache Modell warum Wachstumsaktien mit hohen KGV überproportional abgestraft werden.
Ich möchte bald einen zweiten konkreteren Teil dazu machen. Dazu werde ich mir historische KGV-Daten anschauen und diese in Abhängigkeit der Leitzinsen betrachten um so eine praktische Evidenz dieses Phänomens zu haben. Wahrscheinlich werde ich mir dazu ein kleines R-Script schreiben und dann eine Analyse zu dieser Thematik hier posten.
Quellen:
[1] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurs-Gewinn-Verh%C3%A4ltnis
[2] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gewinn_je_Aktie
[3] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbitrage#Markttransparenz
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